2. März 2008, NZZ am Sonntag

Mullahs am Steilhang

Frauen und Männer stehen am Lift getrennt. Und das Après-Ski ist natürlich strikt alkoholfrei. Doch in den Gondeln wird geflirtet. Winterferien einmal nicht im Engadin, sondern in Iran.

Von Felix Hasler

Verkündet man seinen Liebsten freudig den Plan, den nächsten Skiurlaub nicht im Hoch-Ybrig, sondern bei den Mullahs zu verbringen, blickt man in entgeisterte Gesichter. Trotz allem: Gesagt, gebucht. Und Anfang Februar hat sich unser Trüppchen aus vier Schweizer Experimental-Touristen in den Pulverschneehängen des Elburs-Gebirges wiedergefunden.

Das grösste und für islamische Massstäbe mondänste Skigebiet des Gottesstaates heisst Dizin, liegt schneesicher auf dreitausend Meter Höhe und zwei Autostunden nördlich von Teheran. Ausser wenn der Taxifahrer Analphabet ist. Dann liegt Dizin fünf Stunden nördlich von Teheran. Aber dann diese erhabene Ruhe! Keine grölenden Après-Skifahrer, kein DJ Ötzi. Einfach nur tiefe Stille am Ende eines eiskalten Skitages.

Meine Zen-Stimmung auf dem Hotelbalkon wird gestört, weil Erich im Zimmer den Fernseher entdeckt hat. Auf dem staatlichen Sender Alalam ist es immer noch 1979. Heiser geschriene Menschenmassen skandieren mit geweiteten Augen Revolutionsparolen. Dazwischen ein paar blutige Folterszenen als Memento an die Geheimpolizei des Schah-Regimes. Dass die Einschaltquote der staatlichen Propagandasender bei ziemlich genau null liegen muss, bestätigen später auch unsere Teheraner Freunde.

Man spricht Deutsch

Wir schalten aus und gehen in die Hotellobby. Neben dem obligaten Doppelporträt der Revolutionsführer Khomeiny und Khamenei hängt ein ausgestopfter Geissbock und schaut uns mit stumpfen Augen an. Wir treffen auf zwei Neuseeländer. Ihr persönliches Argument für Dizin ist überzeugend: «Wir waren vorher in Engelberg. Dort hatte es aber zu wenig Schnee, deshalb sind wir hierher gefahren.»

In den abgewetzten Sofas hinter uns hängen ein paar Teenager und langweilen sich. Man spricht Deutsch. Eine Klasse der Deutschen Botschaftsschule Teheran, klärt uns der Lehrer auf. Unsere Vermutung bestätigt sich: Das Konzept des Après-Ski ist hier gänzlich unbekannt. Dafür können auch wir endlich mal wieder das lange vermisste Gefühl eines Skilagers geniessen. Statt nach Lehrern fahnde ich nun nach Sittenwächtern, bevor unsere Kolleginnen zu uns aufs Zimmer kommen. Am Ende der Woche haben sie den Sprung ins Badezimmer routiniert im Griff, wenn es unerwartet an der Türe klopft.

Dizin ist ein Paradies für Ski-Nostalgiker. Die Anlagen stammen aus Zeiten des Schahs, seither wurde daran kaum etwas gemacht. Die Tragseile hängen durch, und ab und zu soll eine Gondel runterkommen. In den siebziger Jahren hatte man eine originelle Methode, um Lawinen loszuwerden: Pisten evakuieren und mit einer Staffel Düsenjets im Tiefflug über die Hänge donnern. Das einzig Neuzeitliche in Dizin sind die riesigen Werbetafeln von Samsung, Sony und Benetton, die seltsam verloren in den Schneehängen stehen.

Der Mann, der in der Glühwein-freien Buvette à l'iranienne grosszügig Greyerzer an uns verteilt, heisst Marco Kämpf und hat einen interessanten Beruf: Er ist Head of American Interests Section der Schweizer Botschaft. Der Diplomat auf brisanter Mission ist erfreut, auf Landsleute zu treffen. Das sei eine absolute Seltenheit.

Dass der Islam ein echtes Sexproblem hat, ist auch in Dizin offensichtlich. Das mit den getrennten Skipisten für Frauen und Männer funktionierte zwar nicht. Geblieben ist das geschlechtergetrennte Anstehen an einigen Liften, komischerweise nicht an allen. Warum dem so ist, kann uns niemand so genau sagen. Wir vermuten eine Mischung aus Willkür und theokratischem Diktatur-Dilettantismus.

Auch landet man überraschenderweise am Ende der Warteschlange gemeinsam in den wackligen orangefarbenen Vierergondeln. Auf der Bergfahrt nutzt man die Zeit, um ungestört zu plaudern und zu flirten. Die sprichwörtliche Freundlichkeit der Iraner entfaltet sich. Sogar ein Joint macht die Runde. Kaum geht die Gondeltür auf, verstummen die Gespräche wie auf Knopfdruck. Blicke wenden sich ab, und Mann und Frau nehmen wortlos die Abfahrt in Angriff. Nach Jahren der Überwachung hat man die Angst vor der «Kultur- und Sicherheitspolizei» verinnerlicht, die in mintgrünen Skianzügen patrouilliert.

Die Furcht ist nicht unbegründet. Ein Armenier erzählt uns, er sei letzten Winter schon hier gewesen. Allerdings nur kurz, weil er ausgewiesen worden sei. Sein Fauxpas: Er habe auf der Piste mit einem Mädchen geredet und dabei nach Meinung eines Sittenwächters nicht genug Abstand gehalten. Dabei herrschen in Dizin für iranische Verhältnisse geradezu umstürzlerisch lockere Sitten.

Abends Pingpong

Zum Missfallen der Mullahs kommt die Teheraner Jeunesse dorée hierher, um eine Ahnung von Freiheit zu geniessen – aufgebrezelt mit allem, was Lacoste, Hilfiger und Ralph Lauren zu bieten haben. Und überall diese mit Pflaster und Bandagen abgeklebten Nasen. Voller Stolz wird der Heilungsprozess der letzten Schönheitsoperation zur Schau gestellt. Das Abendprogramm von Dizin besteht aus einem heruntergekommenen Fussballkasten und zwei Pingpong-Tischen im Hotelkeller. Aber eine Schönheitsklinik gibt es.

Zu Zeiten der moderateren Regierung Khatami habe es in den Skigebieten sogar Privatpartys mit Techno-DJs aus Aserbeidschan, geschmuggeltem Wodka und Ecstasy gegeben, erklären unsere iranischen Freunde später bei einer Flasche Arak. Das sei jetzt aber vorbei. Man scheut das Risiko, für lange Zeit ins Gefängnis zu kommen oder die Peitsche zu spüren, nur weil ein Nachbar genervt die Polizei anruft.

Und so übrigens geht kennenlernen auf Persisch: Man fährt mit dem Auto herum. In den Peugeots und Paykans sitzen jeweils drei, vier junge Männer oder Frauen, strikt getrennt natürlich. Man überholt sich gegenseitig ein paarmal und checkt den Inhalt ab. Bei gegenseitigem Gefallen fährt man nebeneinander her, kurbelt die Scheibe herunter und tauscht Handynummern aus. Dann verabredet man sich zu einem privaten Treffen zu Hause. Die gesetzlich zwangsverordneten Kopftücher fallen, und Weinflaschen werden aufgemacht – der weitere Abend verläuft dann ganz nach westlichem Muster.

Die Spaltung der Gesellschaft in öffentliche Scheinwelt und Exil des Privaten erleben wir ein letztes Mal auf dem Rückflug nach Genf. Während Frauen im Tschador dasitzen und Stewardessen in Islam-konformen Uniformen im Namen Gottes den sachgemässen Gebrauch der Schwimmweste erklären, schaut sich der Typ vor uns auf dem Laptop gerade einen amerikanischen Actionfilm an. Als ich hinsehe, läuft eine Sexszene unter der Dusche. Auch lernen wir einmal mehr, dass man bei Iranerinnen nicht von der äusseren Erscheinung auf die politische Gesinnung schliessen kann. Unsere konservativ gekleidete Sitznachbarin teilt uns ungefragt und in bestem Englisch ihre Meinung zum verhassten Regime in Teheran mit: «Die Typen in der Regierung sind allesamt Terroristen. Ohne Gewalt werden wir sie nie loswerden.»

Auch sie ist sich des miserablen Rufs ihres Landes bewusst. Und fragt uns, was wir schon unzählige Male gefragt worden sind: Ob wir denn jetzt einen anderen Eindruck von Iran hätten als vor der Reise. Ja, haben wir. Grosszügig, gastfreundlich und herzlich sind die Perser. Ein bisschen sentimental vielleicht. Sicher aber müde und resigniert vom dauernden Versteckspiel und vom zähen Kampf um die eine oder andere winzige Freiheit. Wir nehmen uns vor, bald wieder nach Iran zu fahren.